„Gerade als ich eingeschlafen war, hämmerte jemand heftig an mein Fenster. Ich schreckte hoch und sah vier Polizisten im Hinterhof stehen, die mir alle mit ihren Taschenlampen ins Gesicht leuchteten.“
Ich habe unzählige Male versucht diesen Text zu beginnen. Spätestens nach fünf Sätzen habe ich immer wieder alles gelöscht. Ich weiß einfach nicht wie ich anfangen soll. Ich denke das liegt wahrscheinlich daran, dass ich versuche über etwas zu schreiben, von dem ich noch gar nicht weiß, was es sein soll. Unabhängig davon wird dieser Text für mich von großer Bedeutung sein, denn er wird mir vermutlich dabei helfen meine Gefühle und Gedanken besser zu ordnen und zu verstehen. Diese Gefühle und Gedanken umfassen ein für mich existenzielles psychisches Trauma. Ihr werdet sozusagen live dabei sein, wie ich meine eigenen traumatischen Gedanken, Gefühle und Bilder in diesen Text projiziere. Ich konfrontiere mich selbst mit meinen Erinnerungen aus schweren Zeiten und schaue was dabei heraus kommt. In erster Linie tue ich das hier für mich. Ich weiß aber auch, dass es da draußen viele Menschen gibt, denen es ähnlich geht wie mir. Vielleicht kann ich mit diesem Text andere Menschen mit ähnlichen Biografien inspirieren oder trösten. Vielleicht ist aber auch einfach die Geschichte interessant.
Es geht um meinen ehemaligen besten Freund und Mitbewohner Wilson. Wilson lebt jetzt schon ein paar Jahre nicht mehr. Sein Tod war und ist bis heute ein enorm großer Bestandteil meines Lebens. Ich träume regelmäßig von dem Tag an dem Wilson starb. Ich spüre wie meine Herzfrequenz steigt, wenn ich den plastischen, visuellen Erinnerungen näher komme und versuche sie auszuleuchten, um sie detaillierter beschreiben zu können. Es fühlt sich so an, als würde sich mein Unterbewusstsein dagegen wehren diese Bilder in meinem Kopf in Worte zu fassen und damit endgültig zu manifestieren. Die traumatischen Erinnerungen an diesen Tag überschatten leider viele andere schöne Erinnerungen an Wilson und unsere Freundschaft. Die schönen Erinnerungen an die Zeit mit Wilson verblassen hinter einem Schleier aus Traurigkeit, Hilflosigkeit und Zorn. Ich werde ein bisschen weiter ausholen müssen, um diese Geschichte in einen nachvollziehbaren Rahmen zu setzen.
Wilson und Ich waren beste Freunde, die sich wie ein altes Ehepaar all das gegeben haben, was unser Umfeld uns nicht geben konnte – fehlende Liebe, fehlende Aufmerksamkeit und fehlende Geborgenheit. Wir beide arbeiteten in einem großen Uniklinikum in der Intensiv- und Notfallmedizin. Dauerhafter Schichtdienst und 10-Tage-Turns waren die Regel. Tod, Armut und Schicksal bestimmten unseren Alltag. Unsere Psyche war damals glattgebügelt wie das Sonntagshemd eines bayrischen Pfarrers. Wir waren sehr oft dabei, wenn Menschen durch schreckliche Unglücke oder Krankheiten starben. Sie starben unter unseren Händen und wir retteten sie mit unseren Händen. Mit der Zeit entwickelt man zwangsläufig eine Strategie, um in diesem kaputten, ausbeuterischen Gesundheitssystem zu überleben. Jeder entwickelt da seine eigenen Strategien. Natürlich kommen manche mit der Belastung besser klar als andere. Schädigen tut dieses turbokapitalistische Gesundheitssystem auf Dauer alle Beteiligten, dass steht fest. Die Patienten leiden in der Regel auch unter diesem kaputten Gesundheitssystem – sowohl direkt als auch indirekt. Meine Kollegen waren allesamt psychisch sehr auffällig. Das Arbeitsklima war die reinste Hölle. Alle waren unglaublich unglücklich, gehetzt und voller Ärger. Es gab weder Zusammenhalt noch Teamgeist. Bei uns im Krankenhaus war es wirklich so wie in der Serie „Emergency Room“ – es gab jede Menge Grüppchenbildungen, Zickenkriege, Intrigen, Eifersucht, Neid und Missgunst. Was aber alle gemeinsam hatten, war der unbändige Drang zur Arbeit. Die Diagnose „Workaholic“ hätte ausnahmslos zu jedem der Kollegen gepasst. Jeder wollte jedem zeigen wie hart und gewissenhaft man arbeitet. Wahrscheinlich sehnen sich all diese hart arbeitenden Menschen einfach nur nach Anerkennung, Respekt und Liebe. Sie wollen gesehen werden. In diesen Jobs wird man mit der Zeit zu einem altruistischen Misanthropen. Man möchte die Welt brennen sehen, aber erst wenn kein Patient mehr krank ist und niemand mehr leiden muss. Das ist ein sehr selbstloses Selbstverständnis, in dass man mit der Zeit hinein wächst. So war es zumindest bei mir. Für mich ist das bis heute eine lobenswerte Eigenschaft. Und darauf bin ich auch heute noch wirklich stolz. Das ist auch der Grund dafür, wieso man die Belegschaft in Krankenhäusern so gut ausbeuten kann. Die Aktionäre die mit Krankenhäusern Geld verdienen, generieren ihre Rendite auf Kosten der Gesundheit von PatientInnen und MitarbeiterInnen.
In den ersten Jahren unserer Freundschaft lebte ich noch mit meiner damaligen Freundin zusammen in einer Wohnung. Das war die Wohnung, in die Wilson später einziehen sollte. Zu der Zeit waren meine Ex und ich auch noch einigermaßen „glücklich“, auch wenn ich damals schon kaum schlafen oder arbeiten konnte ohne Medikamente zu nehmen. Ich hatte schon einige Jahre starke chronische Schmerzen in meinem Unterleib und mein Rücken machte mir auch immer mehr zu schaffen. Oft hatte ich Durchfall oder Verstopfung und manchmal Tage lang heftige Übelkeit und Erbrechen. Meine Krankheiten äußerten sich meistens episodisch in Schüben, die in ihrer Intensität schwankten.
Die Persönlichkeiten von mir und meiner Ex-Freundin Jael waren völlig gegensätzlich. Sie war extrem schüchtern, während ich eher eine Rampensau war. Sie jobbte nur ein bisschen nebenher und hatte viel mehr Freizeit als ich, in der sie viel Sport trieb und ihre Hobbies und Freundschaften pflegte. Sie hatte unglaublich viel Energie und sah nur das Schöne und Bunte im Leben. Alles was sie betrüben könnte lehnte sie ab. Mit Weltschmerz, Politik und Nachrichten wollte Jael nichts zu tun haben. Sie verweigerte sich dem realen Leid dieser Welt. Sie wollte lieber mit Freunden im Park Yoga machen und die Sonne genießen. Spannende Filme oder Serien konnte ich mit Jael auch nie schauen, weil sie dann nicht mehr einschlafen konnte und Alpträume bekam. Mit der Zeit gerieten wir immer öfter aneinander, weil der Job mich physisch und psychisch immer mehr forderte. Außerdem war ich mein ganzes Leben über ein sehr politischer Mensch mit festen Prinzipien. Jael wollte einfach nie zu irgendwas Stellung beziehen. Sie würde immer den Weg des geringsten Widerstandes gehen. Das machte mich manchmal unglaublich wütend. Sie fragte mich nie wie es mir ging und ich konnte ihr auch nie etwas von der Arbeit erzählen, weil sie die schrecklichen Dinge nicht hören wollte. Das belastete mich sehr und machte mich immer dünnhäutiger. Die Ironie des Lebens – was ich in der Realität erleben musste, war für meine Ex-Freundin schon als Erzählung zu viel.
Je mehr sie und ich uns voneinander entfernten, desto mehr verschmolzen die Herzen von Wilson und mir. Fast immer wenn sich unsere freien Tage oder Feierabende überschnitten, verbrachten wir Zeit miteinander. Obwohl auch Wilson eine Freundin hatte, trafen wir uns, wenn möglich, immer nur zu zweit. Wir behaupteten immer, dass wir einen Männerabend machen würden. Natürlich waren Jael und Lena nicht blöd. Sie spürten, dass wir ihnen aus dem Weg gingen. Es gab immer öfter Streit, der dazu führte, dass wir den beiden Mädels noch mehr aus dem Weg gingen. Unsere Jobs veränderten unsere Persönlichkeiten, ohne das wir selbst irgendetwas bemerkten.
Durch unser medizinisches Fachwissen ergötzen wir uns selbstverständlich regelmäßig an den wunderbaren pharmazeutischen Möglichkeiten der Schmerzunterdrückung und Betäubung. Kurz bevor sich Jael von mir trennte, litt ich bereits, zusätzlich zu meinen chronischen Magen-Darm-Beschwerden, unter starken chronischen Rückenschmerzen, die ich relativ häufig nur mit starken Opioiden Schmerzmitteln in den Griff bekam. Ich hatte durch die Arbeit keine Zeit mehr für Jiu-Jitsu, was lange Zeit ein sehr guter sportlicher Ausgleich für mich war. Ich schlief im Schnitt auch nur noch maximal drei bis fünf Stunden am Tag. Das schaffte ich meistens aber auch nur mit Hilfe von Schlaftabletten.
An einem Tag entschied sich Jael plötzlich dafür in eine WG zu ihren Freundinnen zu ziehen. Ich wusste, dass sie schon länger diese Gedanken hegte, war aber dennoch ziemlich überrascht das auf einmal alles so schnell ging. Es war natürlich seltsam, dass meine Freundin, mit der ich schon über 5 Jahre zusammen war, lieber bei ihren Freundinnen wohnte, als bei mir. Heute erkenne ich natürlich, dass mir schon da hätte klar sein müssen, was bald auf mich zu kommen würde. Ich verdrängte jeden Zweifel und alle schlechten Gedanken und Gefühle wie ich es gewohnt war und konzentrierte mich auf meinen Alltagstrott. Ich hatte keine Zeit für Probleme und schon gar nicht für Emotionen – die machten in der Regel immer alles nur noch komplizierter.
Ich war also noch mit Jael zusammen, wohnte jetzt aber allein in einer viel zu großen Wohnung. Wilson und ich kamen natürlich direkt auf eine geniale Idee: Wir gründeten eine richtig schöne Männer-WG. Ein Traum. Zwei super gute Freunde, im selben Job, in der selben Wohnung. So würden wir zusammen durchs Leben kommen, da waren wir uns sicher.
Die erste Zeit zusammen in der neuen WG gehörte natürlich Wilson und mir. Wir genossen jeden freien Abend zusammen. Wir saßen oft bis spät in die Nacht in meinem Zimmer und schauten zusammen Serien oder hörten Stunden lang Jazz und redeten über Gott und die Welt. Wir genossen die Zweisamkeit, Geborgenheit und Ruhe sehr intensiv. Besonders die Dinge über die wir mir mit niemand anderem reden konnten, besprachen wir sehr ausführlich. Wilson und ich hatten keine Angst davor voreinander Emotionen zu zeigen. So waren wir beide in gewisser Hinsicht voneinander abhängig. Wir hielten uns gegenseitig in der Spur. Es kam öfter vor, dass wir beide auf dem Sofa einschliefen und morgens durch warme Sonnenstrahlen im Gesicht geweckt wurden. Im hellen Licht der morgendlichen Sonne wurde das ganze Elend dann plötzlich wieder sichtbar und spürbar. Die Realität holt einen genauso schnell wieder ein, wie man vor ihr geflüchtet ist. Meine Schmerzen waren sofort wieder da, sowohl physisch als auch psychisch. Bei dem Anblick der Schlaf- und Schmerztabletten, dem vollen Aschenbecher und der fast leeren Whisky Flasche wurden wir beide unsanft daran erinnert, wie schwach und armselig wir doch eigentlich waren. So stieg das Verlangen nach dem nächsten freien Abend umso mehr. Jetzt musste man einfach nur durchhalten und stark sein, bis man wieder am rettenden Ufer der absoluten Ruhe und Betäubung angekommen war. Duschen gehen, Haare scheiteln, Hemd und Sakko anziehen, Parfum auflegen und ich war wieder der perfekte, fleißige Schwiegersohn. Das ich ohne Schmerzmittel kaum noch arbeiten konnte, wusste zum Glück nur ich, sonst hätte meine Maskerade nach außen hin vielleicht Risse bekommen. Schließlich retteten wir in der Klinik regelmäßig Menschenleben oder begleiteten Menschen in den Tod. Ich durfte auf keinen Fall Schwäche zeigen und meine PatientInnen und KollegInnen im Stich lassen – sonst würde mich der Leistungsdruck dieser Gesellschaft zerfetzen wie ein hungriger Löwe eine lahmende Gazelle. Ich war ja noch so jung. Manche Kollegen lebten schon seit über zehn Jahren in diesem Trott. Ich durfte auf keinen Fall scheitern. Ich wollte nicht wertlos sein. Ich wollte gebraucht werden. Ich lebte im Grunde ausschließlich für den Job und die wenige freie Zeit dazwischen. Ich selbst war mein eigener blinder Fleck. Jael hatte das alles wohl schon viel früher erkannt, wie ich leider sehr überraschend feststellen musste.
Es war ein sehr sonniger Tag, daran erinnere ich mich noch sehr gut. Wilson und ich hatten beide ein paar Tage frei, die wir wie immer ausgiebig genossen. Tagsüber waren wir beide in unseren Zimmern, als es plötzlich an der Tür klingelte. Ich dachte zuerst, dass das wohl Lena sein würde, denn Jael und ich hatten keine Verabredung an diesem Tag. Ich öffnete also die Haustür und sah Jael vor mir stehen. Ich freute mich natürlich über diesen spontanen Besuch und gab ihr einen flüchtigen Kuss. Dann drehte ich mich schnell um und ging schon mal vor in mein Zimmer, um noch schnell zu lüften und meine Wäsche unters Bett zu schieben. Danach setzte ich mich auf meinen großen Bürostuhl und lächelte freundlich. Jael setzte sich mir gegenüber aufs Bett. Sie schaute mich an ohne etwas zu sagen. Ich versuchte irgendeinen Smalltalk zu starten, als sie mich plötzlich mitten im Satz unterbrach.
„Ben, es ist aus. Ich beende die Beziehung.“
Wieder schauten wir uns ein paar Sekunden lang schweigend in die Augen. Ich bemerkte wie sich meine Herzfrequenz erhöhte. Mein Gesicht wurde ganz heiß und eine starke Übelkeit stieg in mir auf. Damit hatte ich nicht gerechnet. Es zog mir den Boden unter den Füßen weg. Meine Augen wurden wässrig während ich Jael noch immer schweigend in die Augen schaute. Sie saß völlig regungslos da. Ich atmete immer schneller und schneller. Mit jeder Sekunde wurde mir die Endgültigkeit dieser Situation bewusster. Ich liebte diese Frau und hatte sechs Jahre mit ihr verbracht. Sie saß vor mir, wie sie schon unendlich oft vor mir saß, nur diesmal war sie mir eigenartig fremd und so fern wie noch nie. Nach ein paar Minuten des Schweigens forderte sie mich dazu auf etwas zu sagen. Ich konnte jedoch nichts sagen. Ich stand auf und deutete mit meiner Hand auf meine Zimmertür. Jetzt bekam auch Jael Tränen in den Augen. Sie stand auf und verließ zum letzten mal die Wohnung in der wir knapp 5 Jahre zusammen lebten. Unsere Beziehung schoss in tausenden Bildern durch meinen Kopf. Aus dem Nichts schlug mir das Schicksal mit einem Baseballschläger in die Magengrube. Ich brach schreiend zusammen und schluchzte wie ein kleines Kind. Die Realität bohrte sich wie eine glühende Speerspitze in meinen Unterleib. Die psychischen Schmerzen waren unerträglich. Ich weiß nicht mehr wie lange ich auf dem Boden lag und schrie, bis es plötzlich an der Tür klopfte und Wilson in meinem Zimmer stand. Er setzte sich zu mir auf den Boden, nahm mich in den Arm und weinte mit mir. Wie Jael gerochen hat weiß ich heute nicht mehr, aber ich weiß noch genau wie Wilson immer gerochen hat. Es war eine Mischung aus Weichspüler und einer bestimmten Pomade vom benachbarten Herrenfriseur, bei dem Wilson Stammkunde war. Es war eine Mischung aus Moschus, Holz und fruchtiger Frische. Wilson war ähnlich eitel wie ich. Wir legten beide großen Wert auf stilvolle Hemden, guten Geruch und gepflegte Haare.
Als ich mich langsam beruhigt hatte, sagte mir Wilson, dass er schon davon gewusst hatte. Jael hatte ihm schon im Vorfeld eine Nachricht geschrieben, mit der dringenden Bitte ein Auge auf mich zu werfen. Sie selbst hatte wohl keine Lust sich Sorgen machen zu müssen. Jael hatte es nicht so mit Verantwortung. Sie hasste Verantwortung. Ich glaube sie hatte ihr ganzes leben über Angst davor wirkliche Verantwortung zu übernehmen. Sie lebt in der Überzeugung, dass man in Beziehungen immer nur ausschließlich für sich selbst Verantwortung übernehmen sollte. Emotionale oder menschliche Verantwortung übernahm sie zumindest kein bisschen. Meine Existenz hatte für Jael ab dem Moment der Trennung, wahrscheinlich schon viel früher, keine Bedeutung mehr. Leider wurde mir erst im Nachhinein klar, dass Jael und ich zwei völlig verschiedene Leben lebten. Trotzdem litt ich unglaublich stark unter dieser Trennung, denn ich liebte diese Frau bedingungslos. Ich isolierte mich fast gänzlich von meinem Umfeld und meldete mich mehrere Tage krank. Das schürte natürlich Sorgen bei Wilson und meinen Eltern, die mich auch recht zügig zur Rede stellten. Es war aber völlig egal was sie sagten, es änderte sich für mich rein gar nichts an der Situation. Ich fühlte mich völlig leer, ausgebrannt und extrem depressiv. Ich hatte ständig suizidale Episoden in denen ich völlig apathisch die ganze Nacht lang an die Decke starrte. Ich tat nichts außer arbeiten und schlafen. Arbeiten und schlafen. Arbeiten und schlafen. Immer wieder der selbe Rhythmus. Meine Rückenschmerzen waren zeitweise unerträglich, sodass ich mich mehrere Tage krankschreiben lassen musste. Ich brauchte immer stärkere Schmerzmittel und davon auch immer mehr. Es kam heraus, dass ich inzwischen drei kaputte Bandscheiben hatte, die meine spinal Nerven geschädigt hatten. Das gleiche galt fürs Schlafen – ohne ein Glas Wein und Schlaftabletten kam ich nur selten zur Ruhe. So vergingen einige Wochen in denen Wilson und ich sehr wenig Kontakt hatten, obwohl wir in der gleichen Wohnung lebten. Im Schichtdienst lebt man sehr viel aneinander vorbei, ganz besonders dann, wenn man in entgegenliegenden Schichten arbeitet. Es kam nicht selten vor, dass ich von der Arbeit kam, als Wilson und Lena gerade fröhlich zusammen in der Küche saßen und frühstückten. Ich weiß nicht wieso, aber ich glaube Wilson dachte mir würde die Ruhe und Einsamkeit vielleicht ganz gut tun. Wilson ging es in der Zeit nämlich wirklich gut – so kam es mir zumindest vor. Trotzdem hatte ich immer das Gefühl, dass Wilson sich unglaublich viel Mühe geben musste um Lena zu gefallen. Und genau das sollte ihm auch noch zum Verhängnis werden.
Wilson und ich waren ja eigentlich wie Brüder die sich in schweren Zeiten gegenseitig Halt gaben. Es waren schon 3 Monate vergangen seit Jael mich verlassen hatte. Die ganze Zeit über hatten Wilson und ich nur wenig miteinander gesprochen. Dementsprechend groß war die Überraschung für mich, als Wilson plötzlich zu mir kam und reden wollte. In einem Gespräch näherten wir beide uns nur sehr langsam an, um sicher zu gehen, dass wir nichts falsches sagten. Wir beide wussten, dass es uns nicht gut ging. Wie meine Intuition mir schon im Vorfeld prophezeite, hatte Wilson Probleme mit Lena. Er hatte das Gefühl, dass Lena in ihm nur einen flüchtigen Partner für zwischendurch sah. Wilson führte Beziehungen genau wie ich – ganz oder gar nicht. Wir waren beide treudoofe Trottel. Wenn wir unsere Herzen verschenkten, dann endgültig. Wir mussten uns erst ganz sicher sein, bevor wir uns bedingungslos auf jemanden einließen. Ich liebte Jael unendlich doll und Wilson liebte Lena unendlich doll. Wieso mussten wir beiden sensiblen Trottel nur so kläglich an unseren Beziehungen scheitern? Diese Fragen stellten wir uns nie bewusst – die Antworten darauf schwebten in luftleeren Kellergewölben unseres Unterbewusstseins. Da gab es inzwischen ein riesiges, verstaubtes Antiquariat an ungelösten Konflikten, Gefühlen, Erinnerungen und Geheimnissen. Mit jedem Tag wurde das Inventar ein bisschen größer und wir einen Tag älter.
Eine Woche nach dem Wilson mir die Beziehungsprobleme mit Lena gebeichtet hatte, bekam ich eine Nachricht. In dieser Nachricht schrieb Wilson mir, dass Lena die Beziehung urplötzlich bei einem Spaziergang beendet hätte. Mir war klar, dass Wilson jetzt auf keinen Fall allein sein sollte, denn er war auch für mich da, als Jael mich verlassen hatte. Ich war inzwischen häufig bei meinen Eltern, in meinem Heimatort, weil ich davon ausging, dass Wilson viel mit Lena beschäftigt war. Nach dieser traurigen Nachricht von Wilson stieg ich natürlich direkt in mein Auto und raste noch in der selben Nacht über die Autobahn nachhause.
Schon im Treppenhaus konnte ich Wilsons Subwoofer wummern hören. Als ich in die Wohnung kam, legte ich nur kurz meine Sachen in mein Zimmer und ging direkt zu Wilson. Ich schlug mehrmals mit der flachen Hand extra laut gegen seine Zimmertür, damit er mich trotz der lauten Musik hören konnte. Plötzlich wurde es leise und ich hörte Schritte hinter der Tür auf mich zu kommen. Schlagartig öffnete sich die Tür und der zwei Meter große Wilson fiel mir schluchzend um den Hals. Wir lagen uns in den Armen und genossen den Moment der Zweisamkeit. Es war wie verhext. Erst Jael und dann ein paar Monate später Lena. Jetzt war uns wirklich nichts mehr geblieben als die Arbeit und unsere Freundschaft.
Wir versuchten die beiden Mädels möglichst schnell zu vergessen, um wieder ordentlich Energie zu tanken für die Arbeit. Wilson hatte sich dazu entschlossen ein paar Wochen zu seinen Eltern zu fahren und sich zu beruhigen. Ich entschloss mich kurzfristig dazu völlig überteuert, mit einem Sack voll Schmerzmittel, auf die Malediven zu fliegen, wo ich den ganzen Tag völlig betrunken am Strand lag und mir den Rücken von einem Physiotherapeuten massieren ließ. Ich tat damals Dinge für die ich mich heute unendlich schäme. Diese perverse Dekadenz war wohl ein Ausdruck meines Selbsthasses und meiner Hilflosigkeit. Ich verprasste meine letzten Ersparnisse in kürzester Zeit für völlig sinnlosen Mist. Wilson war natürlich immer dabei wenn wir uns an freien Tagen ins Koma feierten. Es wurde wieder alles wie früher, nur das wir jetzt beide single waren. Der selbe Trott. Die meiste Zeit verbrachten wir völlig übermüdet und depressiv, bei künstlichem Licht, auf der Arbeit im Krankenhaus. Die Arbeit ging damals wie ein Film an mir vorbei. Ich funktionierte wie ein Roboter. Tag für Tag, Woche für Woche. Ich fühlte nicht eine einzige Emotion. Vor den Patienten und Kollegen spielte ich eine perfekte Rolle. Genauso wie vor Wilson. Ich spielte Emotionen. Manchmal dachte ich mir irgendwelche zwischenmenschlichen Begegnungen aus, damit ich auf der Arbeit etwas erzählen konnte und mich alle für normal hielten. Wilson und ich hatten uns zwar geschworen aufeinander aufzupassen und füreinander da zu sein, nur waren wir leider beide unfähig über unsere Emotionen zu sprechen. Wir bildeten uns wenigstens ein das wir ehrlich waren. Auf der Arbeit versuchte ich immer stets freundlich und ruhig zu bleiben, auch wenn mal wieder irgendwelche KollegInnen meine Nerven auf die Probe stellten. Es war mir eigentlich alles egal, dass war die Wahrheit. Ich spürte eine unendliche Sehnsucht nach Liebe, Geborgenheit, Anerkennung und Sinn. In meiner Magengegend war ein schwarzes Loch, welches jede Emotion in mir verschluckte. Ich war an einem Moment in meinem Leben angekommen, an dem ich nicht mehr wusste, wofür ich morgens eigentlich noch aufstand. Ich empfand keine Freude mehr und hatte keinerlei schöner Gedanken oder Erinnerungen mehr. Ich wollte eigentlich immer nur möglichst schnell ins Bett, wenn ich die Möglichkeit dazu hatte, denn Schlaf war der effektivste weg Zeit zu verbringen ohne dabei fühlen zu müssen. So verbrachte ich Woche um Woche. Vom Bett auf die Arbeit und wieder zurück in mein Bett. Das ging immer so weiter. Die einzige Person in meinem Umfeld war Wilson. Ab und zu liefen wir uns in der Küche über den Weg. Wir fragten uns dann immer gegenseitig ob es uns gut ging. Wir belogen uns natürlich und behaupteten es wäre alles okay. Wieso wir das taten weiß ich bis heute noch nicht.
Wilsons Entscheidung
Ich hatte gerade die letzte Nachtschicht von einem zehntägigen Arbeitsturn hinter mir. Es war genau 06:04 Uhr morgens als ich durch die große, automatische Schiebetür das Klinikum verließ. Es war Herbst und noch ziemlich dunkel und kalt. Es hing ein orangener Dunstschleier über der Stadt und es war unglaublich still, fast ein wenig trügerisch. Ich war so müde, dass ich alles leicht verschwommen sah. Am Himmel erstrahlte der Mond in hell weißem Licht. Winzige Wolkenfetzen zeichneten zarte Schatten auf den Boden unter meinen Füßen. Ich steckte mir eine Zigarette an, zog einmal kräftig daran und atmete schwerfällig wieder aus. Mir wurde leicht schwindelig vom Nikotin, während ich in der Innentasche meines Jacketts nach meinem Smartphone suchte. Ich schaute einmal kurz auf den Display – keine Nachrichten. Also ging ich zu meinem Auto und fuhr nachhause.
Zuhause war alles ganz still. Um diese Uhrzeit war noch die gesamte Nachbarschaft im Tiefschlaf und Wilson wahrscheinlich auch. Ich putzte mir noch schnell die Zähne, spritzte mir noch genügend Schmerz- und Schlafmittel, um mich dann endlich in mein warmes, großes Bett zu kuscheln. Ich spürte eine kleine, angehnehme Erleichterung, weil ich wusste, dass ich jetzt erstmal ein paar Tage frei hatte. Ich konnte also völlig sorglos das Handy und den Wecker ausschalten und so lange schlafen wie ich wollte. Als ich die Augen schloss und mir vorstellte wie meine Mutter mir den Kopf streichelt, spürte ich ein warmes Kribbeln meine Wirbelsäule aufsteigen. Ich hatte das Highlight dieser Woche mal wieder erreicht, ohne vorher zu scheitern.
Gerade als ich eingeschlafen war, hämmerte jemand heftig an mein Fenster. Ich schreckte hoch und sah vier Polizisten im Hinterhof stehen, die mir alle mit ihren Taschenlampen ins Gesicht leuchteten. Die Polizisten erklärten mir durch das Fenster, welches auf kipp stand, dass sie schon ziemlich energisch geklingelt hätten, jedoch niemand aufgemacht hätte. Die Medikamente hatten mich wohl ziemlich tief und fest schlafen lassen. Ich zog mir eine Hose und ein Hemd an und ging zur Haustür. Obwohl ich keine Ahnung hatte, was die Polizei von mir wollen könnte, hatte ich ein sehr ungutes Gefühl. Es war gerade erst 06:28 morgens, dass musste also wichtig sein. Ich schaute nochmal durch den Spion, was ich sonst nie tat und öffnete die Tür. Die Polizisten waren zu viert, was mich auch sehr wunderte. Direkt vor mir standen ein sehr junger Mann in meinem Alter und eine ebenso junge Frau.
„Guten Morgen. Entschuldigen Sie die frühe Störung, aber darf ich fragen wie Sie heißen?“, fragte mich der junge Polizist.
„Mein Name ist Ben-Levin Lewinsky. Kann ich Ihnen helfen? Ist was passiert?“
„Wir würden gerne mal mit ihrem Mitbewohner sprechen, dem Herrn Wilson Neumann. Ist der da?“, fragte diesmal die junge Polizistin.
„Oha, das weiß ich gar nicht genau. Ich bin selber erst vor ungefähr 30 Minuten von der Arbeit gekommen. Wilson und ich arbeiten beide im Uniklinikum im Schichtdienst, da lebt man manchmal ziemlich aneinander vorbei. Aber wenn er hier ist, schläft er bestimmt. Kommen sie doch bitte rein, ich werde mal bei ihm anklopfen.“
Die beiden Polizisten folgten mir in die Wohnung, bis in den Flur vor Wilsons Zimmertür.
„Ich werde mal kräftig klopfen, der schläft immer wie ein Bär“, sagte ich und grinste.
Ich klopfte drei mal kräftig an Wilsons Tür.
„Wilson, steh auf, die Polizei ist da, die wollen mit dir reden.“
Keine Reaktion.
„Ist er vielleicht doch nicht da?“, sagte ich verwundert und öffnete die Tür.
Wilsons Zimmer war sehr dunkel. Ein Polizist leuchtete mit einer Taschenlampe quer durch den Raum bis zum Bett. Ich konnte direkt die Umrisse von Wilsons Oberkörper erkennen. Er lag mit dem Gesicht von uns weg gerichtet. Ich ging ganz langsam auf das Bett zu und sagte dabei immer wieder seinen Namen. Als ich nah genug am Bett war und ihm ins Gesicht schauen konnte, sah ich, dass Wilson jede Menge Schaum vor dem Mund hatte. Von einer Sekunde auf die nächste fing ich an zu schreien. Ich stolperte nach hinten über meine eigenen Füße und fiel in ein Bücherregal. Ich schrie immer wieder Wilsons Namen und schaute die Polizisten panisch in die Augen in der Hoffnung sie könnten irgendetwas machen. Der junge Polizist packte mich fest an den Schultern und schaute mir tief in die Augen.
„Herr Lewinsky! Sie sind der Fachmann, also beruhigen Sie sich jetzt und machen ihren Job bis die Kollegen da sind!“, brüllte der junge Polizist mir ins Gesicht.
Ich beruhigte mich schlagartig und fing sofort an mich auf Wilson zu konzentrieren. Bis auf seine Schuhe hatte Wilson sich nichts ausgezogen bevor er sich ins Bett gelegt hatte. Er lag zufrieden lächelnd, in Embryonalstellung, auf der linken Seite zum Fenster gerichtet. Sein Gesicht war kreidebleich und es stand Schaum vor seinem Mund, was darauf hindeutete, dass schon länger keine Ventilation mehr stattgefunden hat. Als ich an seinem Hals den Puls fühlen wollte, spürte ich, dass er eiskalt war. Ich bewegte seinen Arm und stellte fest, dass schon eine gewisse Rigidität bestand. Mein Verstand sagte mir sofort, dass Wilson schon seit ungefähr 24 Stunden tot sein musste, aber mein Herz rebellierte dagegen.
„Er ist tot, schon länger. Er ist eiskalt. Kein Puls, keine Atmung, Rigidität in allen Extremitäten und es ist riecht nach Stuhl“, fluchte ich schluchzend den Polizisten entgegen. Dann fing ich heftig an zu weinen und brach zusammen. Die Polizistin nahm mich in den Arm. Sie mussten mich zusammen in die Küche ziehen, weil ich nicht mehr laufen konnte. Ich weinte, schrie und wimmerte gleichzeitig. In der Küche setzten sie mich an den Esstisch und versuchten mich zu beruhigen, während der Notarzt und die Kripo kreuz und quer durch die Wohnung rannten und ihren Job machten. Ich redete wohl eine Menge wirres Zeug und fing an zu Hyperventilieren. In meinem Kopf sind ganz viele einzelne Bilder, die völlig chaotisch durch mein Bewusstsein flatterten. Es fällt mir auch heute noch sehr schwer den Ablauf chronologisch perfekt zu rekonstruieren, was wohl daran liegt, dass ich eine Menge davon bis heute verdrängt hatte.
Wilson hatte sich selbst mit einer Überdosis Schmerz- und Schlafmitteln umgebracht. In seinem Zimmer lagen eine leere Packung Diazepam und eine leere Flasche Levomethadon. Das Krankenhaus hatte die Polizei gerufen, als Wilson den zweiten Tag in Folge nicht zur Arbeit gekommen war. Er war weder erreichbar, noch hatte er sich irgendwo krank gemeldet. Nur einen Raum weiter hatte Wilson sich umgebracht, ohne mir eine Nachricht zu hinterlassen. Er lag tot in seinem Zimmer, während ich am schlafen war. Das ist unglaublich schmerzhaft für mich. Wir hatten uns eigentlich versprochen immer füreinander da zu sein. Noch heute stelle ich mir häufig die Frage, ob ich irgendetwas falsch gemacht habe. War ich denn wirklich so nutzlos? Wilson hatte wohl nicht das Gefühl, dass ich ihm helfen konnte. Ich habe versagt. Oft spreche ich beim beten zu Wilson. Ich hoffe es geht ihm gut und sein Plan hatte einen Sinn. Trotzdem werde ich nie gänzlich verstehen wieso Wilson das getan hat. Es macht mich traurig, dass er nicht darüber nachgedacht hat mich um Hilfe zu bitten. Ich hätte ihm bei allem geholfen, völlig egal was. Vielleicht hatte er mehr Ärger auf der Arbeit als ich dachte. Vielleicht hielt er auch der hohen Arbeitsbelastung einfach nicht mehr stand. Es gibt unendlich viele ungelöste Fragen und Theorien in meinem Kopf. Ich hoffe ich werde irgendwann meinen Frieden damit schließen können.
Nach Wilsons Tod war ich endgültig völlig allein in dieser viel zu großen Wohnung. Was mir noch blieb war die Arbeit, mein Bett und jede Menge Substanzen, die ich mir inzwischen auch intravenös verabreichte. Ziele hatte ich keine mehr und Emotionen waren mir inzwischen fremd. Wenn ich frei hatte, lag ich durchgängig zugedröhnt in meinem Bett und schlief. Wenn ich nicht schlafen konnte, starrte ich an die Decke und dachte an schönere Zeiten mit Wilson.
von Schlomo Goldbaum