Die traumatisierten Generationen: Das deutsche Bildungssystem zerstört Existenzen – Essay

„Unmündige Opportunist*innen sind das Ergebnis unseres heutigen Bildungssystems. Man verkauft seine Seele für Anerkennung, um vom System nicht inoffiziell als Querulant*in abgestempelt zu werden. So handeln viele Lehrer*innen leider andauernd und fangen an ihre Schüler*innen zu kategorisieren und zu nötigen.“

Auf der Suche nach dem Grund für die immer stärker werdende Verrohung der Gesellschaft, landet man zwangsläufig bei sozialpsychologischen Aspekten und Theorien, die bestimmte Verhaltensweisen in der Bevölkerung beschreiben und versuchen ihre Entstehung zu analysieren und zu begründen. Genau darüber will ich heute sprechen.

In der humanistischen, antikapitalistischen und antifaschistischen linken Community, in der man sich über Dinge wie Gleichheit, Freiheit, Gerechtigkeit, Courage, Empathie und Nächstenliebe generell einig ist, kommt immer wieder die Frage auf, wieso es so viele Menschen gibt, die ohne moralische oder emotionale Hemmungen absolut inhumane, sozialdarwinistische und faschistoide Ideen und Systeme unterstützen. Es gibt Menschen, die betrachten es als ihre berechtigte „Freiheit“, andere Menschen abzulehnen oder auszunutzen. Überprivilegierten Menschen, Faschist*innen und Turbokapitalist*innen fehlt eben die nötige Empathie die man bräuchte, um das Leid und die Not anderer Menschen zu verstehen. Das Verständnis für das Leid und die Not anderer Menschen ist einfach nicht vorhanden. Selbstverständlich gibt es unter diesen Menschen auch einen gewissen Anteil an Psychopath*innen oder anderweitig psychisch Erkrankte, denen einfach die neurologische Fähigkeit zur Empathie fehlt.

Was ist aber mit den Menschen, die eigentlich sehr wohl emotionales Potential besitzen, jedoch durch ihre eigenen Erfahrungen im Leben zu Eis gefroren sind? Deshalb der Titel „Die missbrauchten Generationen“. Ich denke, dass wir mit der Einführung der preußischen Bildungs- und Erziehungsmethoden, am Anfang des 19. Jahrhunderts, die Saat der Ellenbogengesellschaft und des neoliberalen Kapitalismus gelegt haben. Ab der Geburt werden Babys voller Überzeugung in völlig veraltete „tugendhafte“ und „ordentliche“ Vorstellungen und Rollenbilder gepresst. So sollen Babys dann schlafen, wenn Schlafenszeiten sind. Und sie sollen natürlich alleine in ihrem eigenen Bettchen schlafen. Wenn sich die Babys dann unwohl fühlen oder Angst bekommen, versucht man sie krampfhaft daran zu gewöhnen, indem man sie einfach schreien und leiden lässt. Sie sollen auch nur dann Essen, wenn Essenszeiten sind. Wenn das Baby außerhalb der Stillzeiten Hunger hat, wird es nicht gestillt, sondern das weinen und schreien wird einfach ausgehalten. Falls die Babys dann immer heftiger schreien und das immer wieder, nennt man sie einfach „Schreibabys“, um die Verantwortung von sich zu schieben und das Leid des Kindes zu relativieren. Man etikettiert Kinder dann einfach, um sein Gewissen zu beruhigen, denn dann kann es schön weiter schreien und niemand wirft einem vor eine schlechte Mutter oder ein schlechter Vater zu sein. Schließlich darf so ein Kind ja bloß nicht „verwöhnt“ werden, denn es soll sich ja genauso gut wie alle anderen Kinder benehmen und einen guten Eindruck machen in der Gesellschaft!

„Die Welt ist kalt und hart! Du bekommst von niemandem etwas geschenkt! Die Starken und Fleißigen setzen sich durch. Du musst immer stark sein, denn wir leben in einer Ellenbogengesellschaft, in der nur deine Leistung zählt!“ – Mein Vater am Ende der Grundschulzeit.

Was für heftige, frühkindliche Traumata Eltern ihren Kindern aus Unwissenheit mit solchen unbarmherzigen Erziehungsmethoden antun, ist den meisten Menschen wohl nicht klar. Der Druck der heute auf Jugendlichen lastet ist unendlich hoch. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass auch unsere Eltern die selbe, dumme, missbräuchliche Nachkriegserziehung durchleben mussten. Denn die Eltern unserer Eltern waren durch den Krieg missbraucht und traumatisiert worden, weshalb es wichtig ist zu betonen, dass ich niemanden beschuldigen möchte. Es sind eben alle Generationen seit den Kriegen traumatisiert. Es ist wichtig darüber zu reden, um endlich aus dem Teufelskreis herauszukommen. Traumata werden von Generation zu Generation weitergegeben und tief in die Gesellschaft verankert. Selbst heute, im Jahre 2020 werden Kinder in Deutschland noch massenhaft nach sozialdarwinistischen Prinzipien erzogen, streng nach dem Leistungsprinzip, obwohl die Wissenschaft schon längst bewiesen hat, das sich diese alten Erziehungsmethoden völlig missbräuchlich und traumatisierend auf die Kinder auswirken. So wurde z.B. festgestellt, dass Kinder die immer gestillt werden wenn sie es fordern, eine, im Gegensatz zu anderen Kindern, viel bessere soziale Kompetenz und ein besseres Selbstbewusstsein entwickeln, da das Urvertrauen zu den Eltern niemals gebrochen wurde. Die frühkindlichen Auswirkungen von Erziehungsfehlern sind viel größer als früher von Kinderpsycholog*innen, Eltern und Pädagog*innen angenommen.

Nachdem die Kinder dann nach den Wünschen ihrer Eltern auf „richtiges“ Essen, Schlafen und Verhalten abgerichtet sind, geht es direkt weiter mit den Gleichschaltungs-Methoden im deutschen Bildungssystem. In der Grundschule wird den Kindern relativ schnell klar gemacht, dass ihr Leben nicht erfolgreich und glücklich sein wird, wenn sie es nicht auf das Gymnasium schaffen. Es werden neoliberale Märchen in die Köpfe der Kinder gepflanzt, denn in der Schule sind die Lehrer*innen nur nett zu dir, wenn du dich anpasst. Im Grunde lernen die Kinder sich für Anerkennung zu prostituieren. Sei es für Noten, sei es für Lob oder Geld, völlig egal. Man lernt, wie man sich am besten für die allgemeinen, gesellschaftlichen Konventionen verbiegt. Eine Armee an unmündigen Opportunist*innen bringt unser Bildungssystem heute hervor. Man verkauft seine Seele für Anerkennung, um vom System nicht inoffiziell als Querulant*in abgestempelt zu werden. So handeln viele Lehrer*innen leider andauernd und fangen an ihre Schüler*innen zu kategorisieren und zu nötigen. Wer nicht genau das tut was erwartet wird, bekommt keine guten Noten, und damit auch keine gute Zukunft. Wenn das keine missbräuchliche Nötigung des Schulsystems an Kindern ist, frage ich mich, was das sonst sein soll. Ich bin knapp 30 Jahre alt und habe das deutsche Schulsystem bis zum Abitur durchlaufen. Ich wurde von der überwiegenden Mehrheit meiner Lehrer*innen abgelehnt, herabgesetzt oder genötigt, was mir aber erst in der Retrospektive wirklich klar geworden ist. Damals wirkte der „Alltag“ in Schulen und Familien auch auf mich noch völlig konventionell. Ich dachte früher wirklich, es wäre meine eigene Schuld und deshalb völlig in Ordnung, wenn Lehrer*innen mich persönlich kritisierten und benachteiligten. Ich dachte, dass ich vielleicht einfach nicht in die Gesellschaft passe, bis mir klar wurde, dass sich die Gesellschaft flexibel und tolerant auf Menschen einstellen sollte, und nicht andersherum. Ich habe ein paar Freund*innen die hochbegabte „Fachidiot*innen“ sind und über 15 Programmiersprachen beherrschen, aber nicht studieren durften, weil sie ihr Abitur nicht geschafft haben. Die sitzen jetzt abgehängt von der Gesellschaft, ohne Geld und Möglichkeiten in dunklen Zimmern, essen Junkfood und verpassen das Leben. Wieso lässt man in Deutschland soviel intellektuelles Potential durch das Gitter fallen? Abgesehen davon, dass hinter diesen intellektuellen Potentialen auch Menschenleben stecken, die nur wegen sowas wie Noten niemals mehr vernünftig an der Gesellschaft partizipieren können. Die Ineffizienz unseres Erziehungs- und Bildungssystems in Deutschland ist katastrophal schlecht.

Selbstverständlich empfand ich früher auch als Schüler das Schulsystem als ineffizient und dümmlich organisiert, aber dass unser komplettes Bildungssystem in Deutschland für die massenhaften psychischen und physischen Krankheiten meiner Generation und die immer heftigere Verrohung der Massen verantwortlich war und immer noch ist, wurde mir erst mit der Geburt meiner Tochter bewusst. Jetzt wo ich selbst viel über das Leben meiner Tochter nachdenke, beschäftige ich mich erstmals intensiv mit Erziehung und vor allem denke ich viel an meine Kindheit zurück. Ich versuche zu verstehen, was die Gesellschaft aus mir gemacht hat. Was meine Eltern aus mir gemacht haben. Wir alle sind zum großen Teil ein Produkt all unserer Erfahrungen und Erlebnisse, weshalb wir dringend viel mehr darüber nachdenken müssen, wie wir Erfahrungen und Erlebnisse von Menschen, im Rahmen des Bildungssystem, frei von Druck und Erwartungshaltungen, gestalten. Meine Tochter erlebt eine grundsätzlich völlig andere Kindheit als ich und meine Frau. Wir geben unser bestes das Urvertrauen unserer Tochter in uns als Eltern zu stärken, damit sie möglichst frei von Ängsten und voller Mut die Welt erkunden kann. Unsere Tochter schläft wann und wo sie möchte. Sie wird auch gestillt wann und wo und wie sie es möchte. Uns wurde von vielen davon abgeraten und gesagt, dass wir extreme Probleme bekommen werden, wenn wir unser Baby so „verwöhnen“ würden. Das Gegenteil ist der Fall. Sie schläft fast jede Nacht durch ohne zu schreien. Sie entwickelt sich überdurchschnittlich schnell und ist unglaublich viel ausgelassen und entspannt am lachen und erforschen. Sie hat extrem viel Energie am Tag und kommuniziert durch bestimmte Laute, Mimik und Gestiken sehr viel mit ihrer Umwelt. Außenstehende sind oft verblüfft, wenn wir unsere Erziehungsmethoden erklären, wobei wir das völlig instinktiv machen. Selbstverständlich erzähle ich gerade nur von meiner Tochter, womit ich nicht sagen will, dass das bei jedem Baby so sein wird, wenn man es antiautoritär und progressiv-modern erzieht, so wie wir es tun. Ich will damit nur beschreiben, dass wir bis jetzt ein gutes Gefühl dabei haben und uns in allen Vermutungen bestätigt fühlen. Wir haben uns vor der Geburt einfach gar nicht vorbereitet auf die Erziehung. Wir haben uns während der Schwangerschaft erkundigt, wie das bei den meisten anderen, jungen Familien so abläuft und waren erschrocken. Die „konventionelle“, „bürgerliche“ Erziehung ist heute leider immer noch absoluter Usus in der Gesellschaft, wobei es immer mehr Eltern gibt, die aus den veralteten Erziehungsmustern ausbrechen. Ich rede dabei nicht von irgendwelchen verwirrten Impfgegner-Verschwörungstheoretiker-Aluhut-Eltern.

Wir wünschen uns für unsere Tochter eine Schule, in der ihre Talente, ihre Persönlichkeit und ihr empathisches Vermögen gestärkt und gefördert werden, völlig ohne Druck und Zwang. Außerdem ist es wichtig, dass sie lernt, dass es wichtig ist, dass es allen Menschen gut geht. Der Gemeinsinn ist doch sehr stark verloren gegangen. Druck, Zwang, Anpassung und Kontrolle, beherrschen momentan den Alltag in deutschen Klassenzimmern. Diese Mittel sind die besten, um Eigeninitiative und Kreativität in der kindlichen Entwicklung zu verhindern. So wird auch aus der preußischen Erziehung endlich ein Schuh, denn was man im bürokratischen, konservativen, bornierten und bigotten Deutschland gar nicht braucht, sind freigeistige, kreative Menschen mit Eigeninitiative und Enthusiasmus. Noch dazu würden dann viel zu viele Menschen ihre Lebensumstände hinterfragen und in Folge dessen gegen das kapitalistische Sklaventreiber-Prinzip demonstrieren. Wenn unsere Gesellschaft nicht so traumatisiert wäre, hätte es nach der Agenda 2010 wohl schon längst unendlich viele Aufstände, Demonstrationen und Streiks gegeben.

Fazit: Spätestens mit dem Jahrtausendwechsel hätten wir im Zeitalter der modernen, antiautoritären Erziehung des 20. Jahrhunderts ankommen müssen. Freie Bildung, freie Arbeit, Talentförderung und Persönlichkeitsentwicklung im Rahmen humanistischer Prinzipien sollten ohne Druck und Zwang allen Schüler*innen in Deutschland zu Gute kommen. Nur noch eine Schule für alle bis zur 13. Klasse. Keine Noten mehr und jede*r darf so lange wie er will lernen und studieren, bevor er eine Prüfung schreibt. Die Grundschule sollte bleiben, um lesen, schreiben und rechnen zu lehren und frühkindliche Empathie zu fördern. Und an alle jungen Eltern bleibt nur zu sagen – versetzt euch in die Lage eures Kindes und lasst euch nicht zu viel von alten Generationen beraten, falls doch solltet ihr stets skeptisch hinterfragen.

Schalom,
Schlomo Goldbaum

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