„Einerseits kann man sich in die Lage des Hauptcharakters hineinversetzen, andererseits ist man als Zuschauer aber mehrheitlich nicht der Joker, sondern die Gesellschaft, die ihn erschafft, und diese Realisierung ist unbequem.“
Das Märchen der individualistischen Gesellschaft, an sich ein belustigendes Oxymoron, in der jeder selbst verantwortlich ist, und Gewalttäter und nicht ins System passende Menschen „böse“ sind, wird im neuen „Joker“ mit Joaquin Phoenix von Regisseur Todd Phillips effektiv als falsch gezeigt und entkräftigt. Der Reflex der Liberalen, Kriminalität und psychische Erkrankung als etwas rein Individuelles zu verklären, wird durch die Geschichte des Jokers als falsch gezeigt.
So ist jede seiner Eigenschaften – einschließlich seiner psychischen Erkrankung – und Entwicklungen durch vorher bestehenden Lebensumstände und Handlungen anderer Personen bestimmt und erklärbar, und durch Handlungen, die er als psychisch Erkrankter vornimmt, also generell eine deterministische Story. Die neoliberale Politik wirkt sich dabei durch Kürzungen des Budgets für die städtischen Ambulanzen für psychisch Erkrankte direkt auf Arthur Fleck aus.
Er erkennt langsam, ohne individuelle Schuld, genialerweise am Anfang durch von Individualisten als legitim bezeichneter Notwehr, dass Gewalt gegen das System eine Möglichkeit ist, sich von der systemischen Gewalt zu befreien, und dass die Ideale der Gesellschaft allesamt eine Illusion sind. So ist er am Ende des Films kein Anarchist, der mit Idealen ein besseres, menschlicheres System erschaffen möchte, sondern ein Nihilist, der betont, er sei unpolitisch, und der sich am Chaos und dem Aufzeigen der gesellschaftlichen Ideale als falsch erfreut, was auch gut mit der Darstellung von Heath Ledgers nihilistischem Joker in „The Dark Knight“(2008) vereinbar ist.
Er folgt dabei nur der Logik des unmenschlichen Systems, fressen oder gefressen zu werden, und entscheidet sich, wie alle anderen auch, mit Gewalt gegenüber anderen sein Leben aushaltbar zu machen, obwohl er eigentlich immer etwas Soziales als Comedian tun wollte, also aus Sicht der Gesellschaft ein „Guter“ war. Insofern kann man sagen, er tut letztlich genau das, was dauerhaft als das Richtige gepredigt wird, und dürfte von Neoliberalen somit nicht als „böse“ angesehen werden, sondern als einen der ihren. An dieser Stelle zeigt sich, dass die Logik, Gewalt sei „böse“, nicht haltbar ist, denn die gesamte Gesellschaft übt ja dauerhaft Gewalt auf die sozial niedrigeren Schichten aus. Somit ist nach der Logik der Gesellschaft eigentlich jeder einzelne der Gesellschaft „böse“, aber das wird von den Neoliberalen nicht erkannt. Seine Sozialarbeiterin versucht bei ihrem letzten Gespräch noch, ihm zu erklären, dass es ein Problem des politischen Systems ist, also ihm den Klassenkampfgedanken zu vermitteln. Zu diesem Zeitpunkt hat er aber schon die Gegengewalt als adäquates Mittel für seine Selbstbefreiung für sich entdeckt, und so schließt er sich auch nicht dem revolutionsartigen Aufstand gegen die Reichen an, sondern verfolgt nur seine eigene Gegengewalt, die eigentlich der Logik des Systems entspricht, die aber von den Aufständischen als Kampf für ihre Bewegung missinterpretiert wird.
Der Zuschauer möchte sich mit dem Antihelden identifizieren, muss dabei aber merken, dass das nicht so einfach ist. Einerseits kann man sich in die Lage des Hauptcharakters hineinversetzen, andererseits ist man als Zuschauer aber mehrheitlich nicht der Joker, sondern die Gesellschaft, die ihn erschafft, und diese Realisierung ist unbequem.
Das erklärt auch, warum die Medien den Film als problematisch darstellen wollte, vor allem in den USA, und er als besonders gewalttätig bezeichnet wurde, obwohl physische Gewalt nur in wenigen Szenen vorkommt. Tatsächlich sind es die Gesellschaft und die Medien, deren systematische Gewalt auf den Hauptcharakter dauerhaft zu sehen sind, was den Medien auch nicht gefällt, denn sie können dieser Kritik nichts entgegensetzen, da sie berechtigt ist.
Das Märchen einer kompletten Eigenverantwortung des Individuums in einer Gesellschaft wird somit logischerweise als falsch entlarvt, und stattdessen muss man die Eigenverantwortung jedes Individuums erkennen, sich gegenüber den anderen Individuen so zu verhalten, dass das Leben für sie genau so gut ist wie für einen selbst, sodass diese nicht durch dauerhafte Gewalt der durch die anderen Individuen erschafften Lebensumstände psychisch krank werden oder kriminell werden müssen, um zu überleben.
Das hat tiefgreifende Erkenntnisfolgen, wenn man sich dem Gedanken der Verantwortung für andere in der Gesellschaft wirklich annimmt. Unsere neoliberale kapitalistische Gesellschaft erschafft notwendigerweise Armut und systemische Gewalt gegenüber marginalisierten Gruppen, um die sich nicht vernünftig gekümmert wird(absichtlich, weil für die Funktion des Systems notwendig), beispielweise werden Menschen so obdachlos, psychisch krank und abhängig von Drogen, sterben aber natürlich auch an . Wenn die Personen primär ohne systemische Gewalt psychisch erkranken, gibt es oft auch nicht genug soziale Sicherungssysteme, und die Menschen werden durch die Erkrankung obdachlos und bleiben psychisch erkrankt, da sie keine vernünftige Therapie bekommen können.
Hartz IV beispielweise ist eine weitere solche Sache. Menschen werden in einem angeblich sozialen System marginalisiert und mit minimaler ökonomischer Freiheit ausgestattet, so zu wenig erfüllenden Sklavenjobs gezwungen, und wenn sie sich weigern, kann man ihnen bequem die Schuld zuschieben, sie wären ja faul, und deswegen könne man ihnen sogar noch Sanktionen aufdrücken, die ihnen vom Existenzminimum noch einmal Geld abziehen.
Dies hat das Verfassungsgericht vor ein paar Tagen bezeichnenderweise als verfassungsgemäß bestätigt, einzig die bisher üblichen Kürzungen um 60 bis 100(!) Prozent der Minimalsicherung sind als nicht verfassungsgemäß bezeichnet worden, aber generell ist es nun verfassungsgemäß erlaubt, bis zu 30% des Existenzminimums, dass sich an sich schon nicht mit den angeblichen Menschenrechten unserer Gesellschaft vereinbaren lässt, abzuziehen. Dies ist bezeichnend für unser politisches System. Es zeigt, dass der Kapitalismus darauf angewiesen ist, dass Menschen zu Arbeit gezwungen werden durch Gewalt, in der Angst, marginalisiert zu werden, und dabei noch psychischer Gewalt durch Täter-Opfer-Umkehr/Schuldumkehr ausgesetzt wird, wenn er sich gegen die Sklaverei wehrt.
Dies steht im Sozialdarwinismus den Ideologien des Nationalszoialismus kaum nach, die das ganze mit anderen Worten wie „Parasitismus“ geschmückt haben, teilweise mit rassistischen und antisemitischen Motiven verbunden haben und als Konsequenz viele Menschen getötet haben. Das ist aber nur die maximale Ausprägung dieser Ideologie gewesen, die sich auch im Neoliberalismus im Kern finden lässt, allerdings ohne völkische Motive.
Der kapitalistische Individualismus, der ein dem einzelnen Menschen innewohnendes „Böses“ oder „Gutes“ behauptet, vereint sowohl Neoliberalismus als auch Nationalsozialismus. Neoliberale glauben, jeder könne etwas aus sich machen, wenn er sich nur genug anstrenge, und diejenigen, die das nicht schaffen würden, seien halt inhärent faul oder schlecht, und damit sei es akzeptabel, diese unmenschlich zu behandeln. Die in der Hierarchie Höhergestellten haben ihren Platz so (praktisch per Geburtsrecht) durch ihre angebliche Eigenschaft der Intelligenz oder angeblich harter Arbeit(meist Ausbeutung anderer) „verdient“, wobei entweder eine göttliche Entscheidung oder eine biologistisch behauptete Überlegenheit gegenüber den anderen als irrationale Begründung dienen. Bei den Nazis wird das ganze noch um die irrationale Annahme von besseren oder schlechteren Völkern erweitert, die konsequent im Völkermord gipfeln, aber im Grunde sind dies ähnliche, austauschbare Rechtfertigungen für eine angebliche Rechtmäßigkeit von Hierarchie.
Die Nazis verstanden es dabei, das zu dieser Zeit weit verbreitete Wissen um die Unrechtmäßigkeit von Hierarchie umzudeuten in einen völkischen Kampf, bei dem nicht das System selbst schlecht ist, sondern die in der Hierarchie höher stehenden dort nur aufgrund ihrer individuellen Eigenschaften, jüdisch zu sein, angeblich die falschen Menschen dort seien, die Hierarchie an sich aber „gut“ sei, und durch „gute arische“ Menschen zu besetzen sei, dann würden alle Probleme gelöst. So hat der Kapitalismus es geschafft, sich trotz seiner Krise der 20er Jahre im Faschismus zu halten, der danach ohne Probleme durch den Neoliberalismus abgelöst wurde.
Nun steckt er wieder in der Krise, und der erneute Aufschwung des Faschismus zur Sicherung der unnötigen hierarchischen Gesellschaftsordnung für deren Profiteure hat mit der AfD auch schon begonnen. Spannend bleibt, wie schnell die Wirtschaftsakteure sich der AfD anschließen oder die CDU/FDP zu einer Zusammenarbeit mit dem Faschismus bekommen, nicht ob, denn die Alternative ist nur die Abschaffung der Hierarchie.
Dieser Entwicklung scheint sich der Film bewusst zu sein, zeigt er auch einen dysfunktionalen neoliberalen Kapitalismus im Spätstadium, in dem die Reichen und die Medien sich bekannt anhörende Lügen wiederholen und wo der reiche Kapitalist der Bürgermeister werden will, analog zu Donald Trump in den USA.
Schalom,
Noam Schwarzbrot
Ich denke man muss bei diesem Film bedenken, dass er aus jenem Land kommt, in dem Kinder noch geschlagen werden dürfen – ein Faktum, das die meisten gar nicht kennen. Fast jeder „Blockbuster“ aus den USA ist eine „Reinszenierung“ der Gewalt, die dort viele Kinder noch immer erfahren: sie muss in Kinofilmen wiederholt werden, um allen zu versichern dass Gewalt normal ist. In Europa sollten wir uns von solchen Filmen distanzieren, wir sind im „Global Peace Index“ viel weiter vorne als die USA und die Gewalt gegen Kinder ist in fast jedem Land verboten.
MfG Roland
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