Serie: Der Morphinist – Teil 1

Ich war auf dem Weg von Portland nach Newport, um meinem alten Leben zu entfliehen und mein neues Leben zu beginnen. Ich fuhr ungefähr zweieinhalb Stunden am Stück. In meinem alten Volvo ließ es sich trotz meiner heftigen Rückenschmerzen gut aushalten. Musik von Chet Baker, genügend Schmerzmittel und Nikotin sorgten für eine angenehme Atmosphäre auf der langweiligen Fahrt.

Als ich Newport endlich erreichte, war es genauso, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ein kleines verschlafenes Küstenstädtchen, in dem ich wohl kaum so vielen Versuchungen und bösen Geistern widerstehen musste, wie zuvor in Portland. Meine neue Praxis sollte auch gleichzeitig mein neues Zuhause sein. Ich hatte das Haus bis dahin nur auf Bildern gesehen und war sehr gespannt, wie es wohl in echt aussehen würde.
Alpine Street 66 war die Adresse, an der mein Navigationssystem mir sagte, ich hätte mein Ziel erreicht. An der Straße sah ich ein Schild auf dem ich meinen Namen erspähen konnte: „Louis Lewinsky, M.D.“. Ich bog rechts ab auf einen kleinen Parkplatz, der direkt vor einem blauen, dreistöckigen Holzhaus lag. Jetzt sah ich das Haus zum ersten Mal in der Realität. Es war wirklich wie auf den Bildern. Im Erdgeschoss sollte meine neue Praxis entstehen, während ich in den oberen beiden Stockwerken wohnen wollte. Das Grundstück und die Straße davor, lagen direkt am Meer. Es war überraschend, wie schnell der Bürgermeister das Schild vor der Praxis erneuern ließ.
Ich stieg aus dem Auto, setzte meine Sonnenbrille auf, steckte mir eine Zigarette an und schaute über das Meer. Der Ausblick war herrlich. Es war kühl und windig, der Himmel war grau und die Luft war diesig. Ich fühlte mich in dieser rauen Umgebung so geborgen und glückselig, wie schon lange nicht mehr. Wenn ich die Augen schloss, hörte ich nichts als das Rauschen des Meeres, das Kreischen der Möwen und meine eigene Atmung.
Als ich mich dann umdrehte, sah ich über das Auto hinweg auf meine neue Praxis, vor der, auf einer kleinen Terrasse, ein paar Bänke standen. Auf einer der Bänke saß eine junge Frau. Sie hatte eine Kapuze auf und starrte in meine Richtung.
Ich nahm noch schnell meinen Mantel und meine Tasche aus dem Kofferraum, drückte meine Zigarette aus und schloss das Auto ab. Ich suchte in der Innentasche meines Mantels nach meinen Pillen. Als ich sie gefunden hatte, schluckte ich noch schnell 8mg Dilaudid und ging dann über den Parkplatz zur Praxis.
Die junge Frau hob ihren Kopf und schaute mir dabei zu, wie ich auf die Praxistür zuging. Ich schaute sie auch kurz an, nickte und lächelte freundlich.
„Hi!“, rief sie mir entgegen.
„Hallo“, antwortete ich, während ich in meiner Umhängetasche nach dem Schlüssel für die Praxis suchte.
„Mein Name ist Miriam Kreiger. Sind Sie der neue Arzt der kommen sollte? Dr. Lewinsky?“
„Ja, der bin ich“, antwortete ich, immer noch in der Tasche wühlend, ohne sie dabei anzuschauen.
„Oh, okay, cool. Es freut mich sie kennenzulernen. Herzlich Willkommen in Newport!“
Endlich fand ich den Schlüssel, natürlich in der letzten Ecke meiner Tasche, zwischen altem Kaugummi und Tabakresten. Ich nahm meine Sonnenbrille ab und schaute die junge Dame zum ersten mal richtig an. Sie hatte immer noch eine Kapuze auf, kaute Kaugummi und schaute mich mit zusammengekniffenen Augen an. Sie war sehr blass, hatte unreine Haut und schwitze leicht. Ich gab ihr die Hand und lächelte freundlich. Ihre Hände waren sehr kalt.
„Vielen Dank, sehr freundlich! Ich freue mich auch sehr hier zu sein. Eine tolle Überraschung, dass schon so ein schickes Aushängeschild mit meinem Namen an der Straße steht. Da war der Herr Bürgermeister ja sehr eifrig. Damit hätte ich nicht gerechnet.“
„Oh, ja, das Schild. Das steht schon ein paar Tage. Seit bekannt ist, dass Dr. Dupin in Rente geht, sind alle total besorgt, dass nur noch dieses bescheuerte Medical Center für die Leute in Newport bleibt. Daher war die Nachricht, dass sie kommen würden, eine Sensation im Diner und im Pub. Das hat sich schnell rumgesprochen, wissen Sie.“
Ich schaute auf meine Uhr und öffnete die Praxistür, blieb aber davor stehen.
„Ich freue mich darauf die netten Menschen dieser Stadt ab Montag in meiner Sprechstunde begrüßen zu dürfen. Ich werde bestimmt viele nette Bekanntschaften machen. Aber, was ist so falsch am Medical Center, wenn ich fragen darf?“
„Ach, die Leute haben ihre Gründe. Ich glaube, dass Dr. Lewis und Dr. Berger nicht sonderlich freundlich sind. Aber da hat wohl jeder seine eigenen Gründe. Zumindest gehen die Leute nicht gern dahin. In der Not frisst der Löwe aber auch Brokkoli, nicht wahr? Dr. Dupin war ganz allein und auch schon ziemlich alt, deshalb konnte er nicht so viele Patienten betreuen. Die Leute mussten also zwangsläufig zum Medical Center.“
„Sehr Interessant“, antwortete ich, wendete mich wieder ab und ging durch die Tür.
Der Eingangsbereich war noch nicht dekoriert und geputzt. Alles war noch ein bisschen eingestaubt, aber dafür völlig intakt. Der Boden bestand aus dunklen Dielen und auch die Einrichtung war in dunklem Holz gehalten. Es gab eine Garderobe, einen Empfangstresen und einen kleinen Wartebereich mit mehreren Stühlen. Ich ging weiter, links am Tresen vorbei durch eine Tür, in mein zukünftiges großes Büro und Sprechzimmer. Das Sprechzimmer hatte zum Meer hinaus eine große Glasfront mit Schiebetür und einer Terrasse. Das Glas war verspiegelt, damit niemand von außen hineinschauen konnte. Mir gefiel die Praxis sehr gut. Außer diesen Räumen, gab es noch eine kleine Toilette, ein Labor und eine Abstellkammer mit Heizungsraum und Stromverteiler im Erdgeschoss. Am Empfangstresen vorbei und dann gerade aus, ging es zu einer Treppe, die in die beiden oberen Stockwerke führte. Da ging es in meine neue Wohnung. Die wollte ich mir auch direkt anschauen, jedoch bemerkte ich, dass die junge Frau noch immer an der Tür im Empfangsbereich stand und mich dabei beobachtete, wie ich meine neue Praxis bestaunte.
„Äh, entschuldigen Sie, kann ich Ihnen eigentlich irgendwie weiterhelfen?“, fragte ich sie und kratze mich am Kopf.
„Ja, ich bräuchte sie als Arzt.“
„Oh, dass tut mir leid. Ich mache erst am Montag offiziell auf. Sie sehen ja, hier ist noch nichts aufgeräumt und geputzt. Ich kenne noch nicht mal meine Arzthelferin. Wenn es Ihnen schlecht geht, müssten Sie leider zum Medical Center gehen. Ab Montag können Sie gerne zu mir kommen, okay?“, sagte ich, lächelte freundlich und deutete subtil in Richtung Tür.
„Aber heute ist Freitag und meine Medikamente sind leer, über das Wochenende brauche ich dringend welche. Können Sie nicht eine Ausnahme machen? Ich möchte nicht in dieses bescheuerte Medical Center, wo man behandelt wird wie ein Untermensch.“
„Es tut mir wirklich leid, aber sie müssen leider ins Medical Center gehen. Ich kann hier noch nichts abrechnen und meine Datenbanken sind auch noch nicht installiert.“
Die junge Frau bekam plötzlich einen verzweifelten Gesichtsausdruck und wässrige Augen. Sie fummelte sich zitternd eine Zigarette aus ihrer Handtasche und zündete sie an. Sie zog zwei, drei mal an der Zigarette ohne etwas zu sagen. Plötzlich fing sie an zu weinen.
„Bitte. Bitte, ich bitte Sie, können Sie nicht eine Ausnahme machen?“, schluchzte sie und schaute mich an.
„Hey, hey, hey… kommen Sie erstmal mit rein, dann schauen wir weiter“, ich legte den Arm um sie und schloss die Praxistür. Ich ging mit ihr ins Sprechzimmer und bot ihr einen Stuhl an, auf dem sie Platz nahm. Ich nahm einen Plastikbecher von einem Schrank und füllte ihn mit Leitungswasser, damit die junge Dame etwas zu trinken hatte.
Dann setzte ich mich zum ersten mal in meinen Schreibtischsessel, stellte meine Tasche ab und schaute die junge Frau an, die sich zittrig hinter ihrem Plastikbecher versteckte und darauf wartete, dass ich etwas sagte.
„Was ist denn überhaupt los? Was für Medikamente brauchen Sie denn so dringend?“
Sie stellte den Becher ab und putzte sich die Nase.
„Ich habe extreme Rückenschmerzen und brauche meine Schmerzmittel, sonst habe ich das ganze Wochenende extreme Schmerzen.“
Ihre Haltung und ihr Gangbild sahen die ganze Zeit über beschwerdefrei aus, was natürlich absolut täuschen kann.
„Was haben Sie denn für ein Rückenproblem?“, fragte ich und startete den Computer.
„Also das ist total durcheinander alles. Die Ärzte sagen alle was verschiedenes. Aber ich habe eine schiefe Wirbelsäule, glaube ich, und deshalb tut das alles weh. Aber so richtig weiß das auch keiner. Die Schmerzen sind aber extrem stark. Ich bin immer wieder bei Ärzten. Im Medical Center war ich schon zig mal, aber die können mir nicht weiterhelfen.“
„Mhm, dass ist ja ungewöhnlich. Ich versuche erst mal jemanden meiner Kollegen im Medical Center zu erreichen und frage mal nach, was für Befunde die haben und welche Medikation sie das letzte mal bekommen haben, ja?“
„Nein, nein! Das möchte ich wirklich nicht. Es geht die nichts an, dass ich bei Ihnen war. Ich bin in einem Rechtsstreit mit denen, verstehen Sie? Sie sollen nichts über mein Privatleben wissen. Ich brauche auch eigentlich nur die Schmerzmittel, dann haben Sie mir schon total geholfen, wissen Sie. Montag könnte ich ja einfach wieder kommen, dann können Sie meinen Schmerzen in Ruhe auf den Grund gehen.“
Schlagartig wurde mir klar worum es eigentlich ging. Sie war abhängig von Opioiden. Sie trug langärmlige Kleidung, deshalb konnte ich ihre Armbeugen nicht sehen. Sie war entzügig und hatte keine Opioide mehr, deshalb das Schwitzen, Zittern, die kalten Hände und der emotionale Ausbruch. Die Kollegen am Medical Center wussten wahrscheinlich von ihrer Sucht und behandelten sie wie einen Junkie.
„Was für Schmerzmittel nehmen Sie denn und in welcher Dosis?“
„Ich nehme Oxycodon, drei mal täglich 80mg. Früher habe ich auch immer so ein Pflaster bekommen, aber davon wurde mir immer sehr übel.“
Drei mal am Tag 80mg Oxycodon – davon würde sogar ich nicht mehr wach werden. Ich wollte nicht behaupten, dass sie kein Schmerzproblem hatte, aber diese Dosierung hatte, bei dieser jungen Frau, nichts mehr mit physischen Schmerzen zu tun.
„Hui, dass ist aber eine große Menge. Ich kann Ihnen doch nicht eine so große Mengen an Betäubungsmitteln verschreiben, ohne dass ich Sie kenne, geschweige denn einen Befund habe. Ich würde mich strafbar machen.“
„Aber ich habe doch solche Schmerzen. Ich bitte Sie! Ich halte das sonst nicht aus! Im Medical Center helfen Sie mir nicht, glauben Sie mir!“
„Ich glaube Ihnen. Beruhigen Sie sich. Ich werde versuchen Ihnen zu helfen.“
Sie beruhigte sich schlagartig.
„Miriam, ich glaube Ihnen, dass Sie Schmerzen haben, aber diese Dosierungen haben nichts mehr mit ihren physischen Schmerzen zu tun, richtig? Wenn Sie ehrlich zu mir sind, helfe ich Ihnen, haben Sie verstanden? Keine Lügen.“
Sie nickte.
„Spritzen Sie sich Heroin, bzw. das, was als Heroin verkauft wird?“
Sie nickte erneut.
„Okay. Ich kann Ihnen kein Rezept ausstellen für solche Mengen ohne Befund. Dafür könnte ich ins Gefängnis kommen. Sie müssten eigentlich eine vernünftige Substitution und Psychotherapie bekommen. Es ist eine Schande, dass das Medical Center süchtige Menschen einfach so hängen lässt, aber das ist ein anderes Thema. Ich muss mal eben schauen, was hier im Labor im Betäubungsmittelschrank noch so zu finden ist, Moment.“
Ich hoffte, dass im BTM-Schrank ein bisschen Buprenorphin zu finden war. Das wäre am sichersten und würde sehr gut helfen. Leider wurde ich enttäuscht. Im Safe waren Fentanyl-Pflaster und Ampullen, flüssiges Morphium, jede Menge Benzodiazepine, die üblichen Notfallmedikamente wie Adrenalin und Atropin und gegen Überdosierungen Naloxon und Flumazenil. Ich zog 40mg Morphin auf in eine kleine Spritze und ging zurück ins Sprechzimmer. Ich konnte sie nicht einfach so weg schicken, nicht in dem Zustand.
„So, ich werde Ihnen jetzt eine Dosis Morphin verabreichen und für das Wochenende nehmen Sie diese hier mit. Das ist Dilaudid. Da ist Hydromorphon drin. 8mg pro Pille. Ich denke, das muss ich Ihnen nicht weiter erklären. Das ist eine einmalige Hilfe, die unter uns bleibt, verstanden?“, sagte ich mit ernster Mine.
„Ja. Ich kenne das Mittel. Vielen Dank, Dr. Lewinksy! Sie helfen mir unendlich doll!“
„Da bin ich mir gar nicht so sicher. Machen Sie bitte den Arm frei.“
Ich spritze ihr das Morphium sehr langsam, um sicher zu gehen, dass ihre Toleranz wirklich so hoch war wie sie sagte.
„Und? Fühlen Sie sich besser?“
„Ja, viel besser… die Bauchschmerzen und die Übelkeit sind weg und mir ist nicht mehr so kalt… Vielen Dank Dr. Lewinsky!“, sagte sie in bemüht freundlichem Ton.
„Ja, ist gut. Nehmen Sie die Tabletten und gehen Sie nachhause. Montag kommen Sie bitte wieder, dann schauen wir, was wir tun können“, sagte ich in ernstem Ton, stand auf und begleitete sie zur Tür.
„Nochmals vielen Dank Dr. Lewinksy! Auf wiedersehen!“
„Auf wiedersehen! Passen Sie auf sich auf!“, sagte ich und schaute über das Meer in den Sonnenuntergang am Horizont.

Ich hatte eigentlich gehofft in Newport eine ruhige Kugel schieben zu können. Das alles klang aber fast so, als gäbe es hier eine Menge Patienten, die dringend einen Arzt bräuchten. Um die Stadt herum waren viele Trailerparks und es herrschte hohe Arbeitslosigkeit, Kriminalität und Armut. Dementsprechend hoch war auch der Drogenkonsum. Die schwer Opioid Abhängigen kauften sich, solange sie genug Geld hatten, Heroin, bzw. Pulver in dem Heroin und Designer-Fentanyl aus China enthalten war. Meistens landeten sie dann entweder mit einer Überdosis im Medical Center, oder sie versuchten irgendwie Rezepte zu erschwindeln. Es gab in der ganzen Gegend um Newport herum keine Mediziner, die sich auf Drogensüchtige spezialisiert hatten. Mir war klar, dass da wahrscheinlich einiges an Arbeit auf mich zu kam.

Montag, 07:00, Newport

Ich hatte das Wochenende damit verbracht die Praxis und meine Wohnung einzurichten und aufzuräumen. Wirklich entspannen konnte ich mich nicht.

Ich stand, eingerollt in eine Wolldecke, auf meiner Dachterrasse und schaute auf das rauschende Meer, während ich meinen ersten Kaffee des Tages trank. Ich brauchte morgens immer eine ganze Zeit um in Wallung zu kommen. Ohne Koffein, Nikotin und Hydromorphon, fing mein Hirn nicht an zu arbeiten. Um 08:00 Uhr wollte meine Arzthelferin kommen. Ihr Name war Denise Watson. Ich habe sie am Wochenende telefonisch kennenlernen dürfen. Sie lebte schon länger in Newport und arbeitete auch bei meinem Vorgänger, Dr. Dupin. Ich betrachtete das als einen großen Vorteil, denn Denise kannte fast jeden in der Stadt und verfügte bestimmt über Wissen, was mir im Umgang mit den Bewohnern der Stadt helfen könnte.
Ich ging wieder rein, trank den letzten Schluck Kaffee und setzte mich an den Esstisch in der offenen Küche. Auf dem Tisch lagen einige Ampullen mit Hydromorphon, frische Spritzen, Kanülen und eine Dose mit Tabletten. Ich spritzte mir jeden Morgen und Abend 8mg Dilaudid, um meine Schmerzen am Tag und in der Nacht zu betäuben. So auch diesen Morgen. Den Tag über nahm ich immer Pillen, wenn die Schmerzen zu stark wurden. Ich verstand Süchtige durch meine eigene Abhängigkeit sehr gut. Opioide sind extrem gute Helfer in jeder Not und leider absolut zuverlässig. Sowohl physische als auch psychische Schmerzen werden sehr effektiv unterdrückt und das ohne toxische Belastung für den Körper, zumindest bei reinen Opioiden. Man fühlt sich geborgen und vergisst seine Sorgen. Ein warmer, schützender Schleier legt sich über einen und die Umwelt rückt in weite Ferne. Ganz besonders natürlich, wenn man Opioide in hohen Dosen missbraucht. Wenn man die Vene getroffen hat und aspiriert, ist das der aufregendste Moment. Man muss nur noch abdrücken und eine Welle warmer Euphorie und Glückseligkeit übermannt einen. Der ganze Körper wird warm und es kribbelt unter der Kopfhaut. In der Magengegend verspürt man eine wohlig warme Geborgenheit.
Ich träumte eine bisschen vor mich hin, bis ich auf die Uhr schaute und aufschreckte. Es war bereits kurz vor acht. Ich zog mir also schnell etwas an, nahm meine Tasche und ging runter in die Praxis.
Als ich unten in der Praxis ankam, ging im gleichen Moment die Tür auf und eine junge Dame kam herein. Das musste Denise sein, meine neue Arzthelferin. Sie war klein und zierlich, hatte viele lange schwarze, geflochtene Zöpfe mit bunten Perlen und trug weite, beigefarbene Leinenklamotten. Sie hatte einen äußerst freundlichen Ausdruck und war mir direkt sympathisch.
„Hey, Denise, richtig?“, fragte ich und reichte ihr die Hand.
„Hallo! Ja, ich bin Denise. Wir hatten telefoniert. Ich habe früher für Dr. Dupin gearbeitet… Gott hab ihn selig. Ich würde jetzt gerne für Sie arbeiten, wenn das für Sie in Ordnung ist. Ich habe auch, wie besprochen, alle meine Qualifikationen und Zertifikate mitgebracht. Ich habe eine Tochter und brauche diesen Job unbedingt, verstehen Sie?“
Denise redete unfassbar schnell, mit nervöser, gebrochener Stimme.
„Hey… beruhige dich. Selbstverständlich darfst du für mich arbeiten. Ich habe sogar darauf gehofft, weil du ja die Einwohner der Stadt sehr gut kennst. Das ist ein großer Vorteil, wenn man Menschen richtig therapieren will“, sagte ich.
„Wirklich? Oh, vielen Dank, Dr. Lewinsky. Sie glauben gar nicht, wie viel mir das bedeutet. Ich muss so viele Rechnungen bezahlen und meine kleine Susi macht mit der Schule eine Camping-Reise, die mich auch 280$ kostet. Ich hätte nicht gewusst, wie ich das alles bezahlen soll ohne diesen Job.“
„Sehr gern, Denise“, sagte ich, „aber bitte sage doch Louis oder Lui zu mir.“
„Alles klar, Lui, dass bekomme ich hin. Kann ich jetzt sonst noch was für dich tun?“
„Nein, du kannst dich entspannen und erstmal einen Kaffee trinken oder so. Die Praxis ist komplett bestückt, gereinigt und einsatzbereit. Ich gehe jetzt ins Sprechzimmer und werde meine E-Mails checken. Ab 09:00 Uhr werden wohl die ersten Patienten kommen und anrufen“, sagte ich abschließend, drehte mich um und ging in mein Büro.

Montag, 08:40, Newport

Ich las gerade online die Nachrichten, als ich durch die große, verspiegelte Glasfront sah, wie eine schwarze Limousine auf den Parkplatz fuhr. Es stieg ein Mann in grauem Anzug aus dem Auto und ging auf den Eingang zu. Ich hatte direkt ein seltsames Gefühl in der Magengegend. Dieser Typ war sicher kein Patient.
Plötzlich klingelte das Telefon.
„Hey, Lui, hier steht ein Herr von der Polizei der mit dir sprechen möchte“, sagte Denise.
„Danke, Denise. Lass ihn bitte rein.“
Ich legte auf und schaute gespannt auf die Tür. Als die Tür auf ging, stand ich auf, um den Polizisten zu begrüßen.
„Guten Tag, mein Name ist Dr. Lewinksy, freut mich Sie kennenzulernen“, sagte ich und gab ihm die Hand.
„Guten Tag, Dr. Lewinsky. Ich bin Detective Floyd von der Mordkommision Lincoln County. Ich hätte da ein paar Fragen an Sie. Hätte Sie kurz Zeit dafür?“, fragte der Detective ruhig und deutlich.
Ich erschrak innerlich und mein Puls ging in die Höhe.
„Von der Mordkommision? Oha, dass klingt nicht gut. Aber natürlich, alles was Sie wissen wollen“, antwortete ich.
„Kennen Sie eine Miriam Kreiger?“
Mir rutschte das Herz in die Hose. In meinem Kopf war absolutes Chaos. Ich hatte Angst, fühlte mich bedroht. Ich wusste nicht was ich sagen sollte.
„Ähm… nein, der Name sagt mir nichts“, sagte ich und wusste im gleichen Moment, dass das die falsche Antwort war. Ich hatte Miriam Medikamente von mir gegeben, was uns natürlich in Verbindung bringt.
„Mhm, okay, schade. Wir hatten gehofft, Sie hätten sie vielleicht am letzten Freitag hier getroffen. Freunde von ihr sagen, dass sie hier hin fahren wollte, um Sie zu treffen. Nun gut, dann müssen wir woanders weiter machen“, sagte er, steckte seinen Notizblock weg und reichte mir die Hand, „Ich danke Ihnen für Ihre Zeit, Dr. Lewinsky. Hier ist meine Visitenkarte, falls Ihnen doch noch etwas einfällt.“
Ich war verwirrt.
„Kein Problem. Gern geschehen. Darf ich fragen worum es geht?“
„Um Mord natürlich. Ich behandele nur Morde. Miriam Kreiger wurde mit zwei Kopfschüssen am Strand gefunden. Bis jetzt haben wir relativ wenig. Sie waren unsere erste große Hoffnung. Wir werden natürlich auf Sie zurückkommen, falls wir Sie noch mal brauchen. Ansonsten haben Sie ja meine Visitenkarte. Auf Wiedersehen, Dr. Lewinksy,“
Ich war wie versteinert.
„Auf wiedersehen, Detective.“
Der Detective ging wieder aus dem Sprechzimmer, verabschiedete sich von Denise und fuhr weg.
Ich musste mich hinsetzten, um das was gerade geschehen war, zu verdauen. Ich ließ mich in einen Ledersessel fallen und starrte an die Decke. Ich atmete ein paar mal tief ein und aus, um mich zu beruhigen. Die haben also keine Medikamente von mir bei ihr gefunden. Ich hatte also glücklicherweise das richtige geantwortet. Wieso diese Miriam jedoch erschossen wurde, konnte ich mir nicht erklären und das machte mir Sorgen.

Montag, 09:45, Newport

Nachdem ich den Schreck verdaut hatte, behandelte ich direkt die ersten Patienten. Ab 09:00 standen die Leute in einer Schlange vor der Praxis. Die Anmeldung war brechend voll. Alle Sitzplätze waren belegt, sogar draußen auf der Terrasse saßen Leute und warteten, während sie die schöne Aussicht auf das Meer genossen.
Die Krankheitsbilder waren zahlreich und typisch. Ich hatte eben das zu tun, was ein Hausarzt so zu tun hatte. Abgesehen von den gängigen Krankheitsbildern, hatte ich wieder einige Süchtige dabei, die versuchten mir irgendwelche Lügen aufzutischen, um an Schmerzmittel zu kommen. Da ich der festen Überzeugung war, dass die Drogenpolitik, insbesondere „the war on drugs“, absolut schädlicher Schwachsinn war, überlegte ich mir eine Notlösung. Ich wollte die Süchtigen in Newport nicht hängen lassen, also verschrieb ich ihnen die jeweils passenden Opioide, damit sie nicht auf den Schwarzmarkt gehen mussten und ihr ganzes Geld aus dem Fenster warfen für giftigen Dreck, der entweder viel zu stark oder viel zu schwach ist. Diese Menschen hatten sowieso schon kaum Geld und waren sowohl physisch als auch psychisch am Ende. Jeder der einen hippokratischen Eid geleistet hat, muss diesen Menschen helfen, alles andere wäre inhuman. Von den meisten verlangte ich nicht mal eine Behandlungsgebühr. Sie hätten sonst niemanden. Ich musste ihnen helfen.
Ich überlegte mir mit jedem meiner Suchtpatienten eine Schmerzproblematik, die wir in die Akten schrieben, damit ich im Zweifel die Schmerzmittelverordnungen vor der DEA und den Krankenversicherungen rechtfertigen könnte. Damit machte ich mich natürlich strafbar, aber es gab keine andere Möglichkeit zu helfen. Die Drogenpolitik war mittelalterlich, weshalb auch die Infrastruktur für medizinische Versorgung von Suchtkranken, absolut unterentwickelt war. In Großstädten gab es teilweise Programme und Streetworker für Drogensüchtige, aber selbst die waren völlig überarbeitet, unterbezahlt und unterbesetzt. Es war ein Trauerspiel.

Ich verabschiedete gerade einen Patienten, als schon der nächste ein bisschen nervös wirkend an der Tür stand. Ich signalisierte ihm mit einem Handzeichen, dass er eintreten könne. Es kam ein junger, großer und kräftiger Mann in Lederjacke und Jeans in mein Sprechzimmer und setzte sich in einen der Stühle vor meinem Schreibtisch. Er hatte eine Silberkette um den Hals, eine goldene Uhr am Handgelenk und roch stark nach billigem Parfum. Im Grunde also ein Proll aus dem Bilderbuch.
„Guten Tag, was kann ich für Sie tun?“, fragte ich und schaute ihn erwartungsvoll an.
„Sind Sie Dr. Lewinksy?“
„Äh, ja, dass steht auch draußen auf dem Schild.“
Der Mann wühlte ein Smartphone aus seiner Lederjacke und tippte auf dem Display herum, bis er es auf meinen Schreibtisch legte.
„Hören Sie sich das an“, sagte er in ernstem Ton und startete eine Audiodatei.
In dieser Audiodatei war das gesamte Gespräch zwischen mir und der ermordeten Miriam Kreiger enthalten. Mir rutschte das zweite mal an dem Tag das Herz in die Hose.
Der Typ steckte das Handy wieder ein und schaute mich grimmig an. Ich war kreide bleich.
„Du hörst mir jetzt genau zu. Du wirst uns regelmäßig Stoff besorgen. Den geilsten Scheiss den es so gibt. Fenta, Oxy’s, Dilaudid, Vicodin, Xanax, Valium, Clonazepam, Adderall… und was es noch so gibt. Mein Boss wird regelmäßige Bestellungen aufgeben. Du triffst dich demnächst mit jemandem, der wird dir alles weitere erklären. Ort, Zeit und sonstige Informationen findest du in diesem Umschlag. Machst du Faxen, gehst zu den Bullen oder sabotierst uns, gehen die Aufnahmen an die Polizei, verstanden?“
Ich war wie vor den Kopf gestoßen.
„Ob du das verstanden hast?“, fragte er noch einmal mit mehr Nachdruck und bösem Blick.
„Ja… ja. Ich habe verstanden“, stotterte ich und starrte ihn an.
Er stand auf, drehte sich um und ging pfeifend aus dem Sprechzimmer. Ich sah ihm noch hinterher, als er mit einem Pickup vom Parkplatz fuhr. Alles was gesagte wurde, ging noch mal langsam durch meinen Kopf. Mir wurde jetzt langsam klar, dass diese Typen Miriam wahrscheinlich dazu benutzt hatten, um mich zu erpressen. Möglicherweise haben sie sie auch ermordet, um den Druck zu erhöhen.

Denise klopfte leise an die Tür und kam ins Sprechzimmer.
„Alles in Ordnung? Du siehst ein bisschen blass aus, Lui“, sagte sie und stellte mir einen frischen Kaffee auf meinen Schreibtisch.
„Ach, heute ist ein sehr intensiver Montag. Ich hatte wohl zu lange Urlaub“, sagte ich und lächelte sie angestrengt an, „Danke für den Kaffee, Miri… ähm… Denise. Entschuldige Bitte. Den Kaffee habe ich wohl nötig.“

Fortsetzung folgt…

von Schlomo Goldbaum



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